Abschied

Meine Großmutter liegt im Sterben.

Letzte Woche stürzte sie und holte den Notarzt – seitdem liegt sie im Krankenhaus. Mittlerweile wissen die Ärzte auch, was ihr fehlt: ein Tumor an der Leber und Blut ungewisser Herkunft daneben. Sie ist 91 Jahre und 11 Monate alt – das darf sein und es werden auch keine weiteren medizinischen Maßnahmen ergriffen.

Heute bin ich mit meiner Mutter zu ihr ins Krankenhaus gefahren.

Aus dem geplanten kurzen Vorbeischauen wurden fast 6 Stunden Wachen. 6 Stunden ihre Hand halten und ihr beim Atmen zusehen. 6 Stunden Zeit mit ihr und meiner Mutter. 6 Stunden gute Gespräche und stilles Warten. 6 Stunden das Unvermeidliche sehen, aber nicht wissen, was passiert. 6 Stunden Leben. Frieden.

Alles andere wird unwirklich und entrückt der Vorstellung – es war wie unter einer Geburt: man weiß, dass es angefangen hat, aber man weiß nicht, wo man sich im Prozess befindet. Zeit wird unwichtig, der Kosmos besteht nur noch aus den wenigen Menschen. Nur noch aus „dem Moment“.
Alles ist ein großes Horchen. Ein Spüren. Ein Warten. Außerhalb der eigenen Willenskraft.

Ihr Gesicht wandelte sich ständig, ihr Blick starrte in die Ferne – mehrmals waren wir uns sicher: „Jetzt! Jetzt kann sie gehen.“
Aber der Moment ging vorüber, sie wachte auf, sprach, trank, summte und guckte ins Leere. Was sie sah? Was sie dachte? Wir werden es nie erfahren.

Gerne hätte ich ihr zugerufen: „Spring. Nimm deinen Mut zusammen und geh.“

Doch funktioniert es so? Entscheidet sich die Seele zu gehen?

Vor ein paar Jahren wollte sie bereits sterben. An einem 8. (Mai war es damals). Heute sagt sie, dass sie an einem Sonntag stirbt.

Morgen ist Sonntag. Der 8.
Vielleicht hat sie sich schon entschieden.

Ina 7. September 2013 mylife 2 Kommentare